Die Nachricht ist weniger heiß als sie im ersten Moment wirkt: Der Katalane Ferran Adrià, für viele Kritiker seit Jahren der beste Koch der Welt, will 2012 möglicherweise sein Restaurant El Bulli schließen. Spekuliert wurde darüber nun schon einige Tage. Auch über die Gründe. Auszeit nehmen, kreative Pause, Gästerückgang – das waren die Schlagworte. Der Stern liefert in seinem Beitrag von heute nun unter dem Titel Das Ende der Schaumschläger den vermutlich plausibelsten Grund für den Rückzug, nämlich einen beginnenden Rechtsstreit mit den Angehörigen des El-Bulli-Teilhabers Miguel Horto, der, wegen angeblicher Depressionen, schon seit Jahren nicht geschäftsfähig gewesen und von Ferran Adrià ausgenutzt worden sein soll. Nun wollen die Hortos Geld und /oder Anteile erstreiten. Das Urteil wird für 2012 erwartet.
Obwohl dieser Rechtsstreit die einzig wirklich spannende Neuigkeit ist, nutzt der Stern die zugegeben appetitliche Gelegenheit, mal wieder gegen die wissenschaftlich inspirierte Küche zu ledern. Die Information über die Gründe für Adriàs möglichen Rückzug stehen deshalb auch ganz am Ende der einseitigen, pardon, zweiseitigen Story. Es werden zum wiederholten Male die angeblichen Gefahren von Texturgebern heraufbeschworen, Seitenhiebe aufs ttz in Bremerhaven abgegeben, die zunehmende Technisierung der Küche beklagt sowie der Umstand, dass Adrià und Co. mit einigen ihrer Produkte Geld verdienen angeprangert.
Nun zockt Adrià nicht mit Leerverkäufen an der Börse herum und lässt sich dann vom Staat die Verluste ausgleichen, sondern er hat lediglich in Zusammenarbeit mit Lebensmitteltechnologen Produkte entwickelt, die im Kochalltag hilfreich sein können und zudem der Haute Cuisine Optionen für neuartige Kreationen bieten. Und was die angebliche Gefahr von Texturgebern angeht, die möglicherweise Durchfall auslösen können (was in Einzelfällen sogar stimmen kann, wenn sie absurd hoch dosiert werden, was jedoch auch für zig andere Lebensmittel gilt): Ich halte jede Wette, dass die gesundheitlichen Gefahren schon durch den üblichen Konsum von Zucker und Salz um ein Vielfaches höher liegen als die von ein paar Gramm Agar oder Xanthan im Gelee. Nirgendwo wurde auch nur ansatzweise belegt, dass Texturgeber aus Algen oder Johannisbrotkernmehl problematischer sind als zum Beispiel Gelatine, ja, dass sie überhaupt problematisch sind. Kein Wort der Kritik gegenüber der Verwendung von Gelatine ist in Beiträgen von Apokalyptischen Reitern wie Jörg Zipprick und Manfred Kohnke zu lesen. Wenn ich in einer ähnlich verschwörerischen Denke unterwegs wäre, wie die Apokalyptiker, was ich nicht bin, würde ich glatt Lobbyarbeit dahinter vermuten.
Kohnke, langjähriger Chef des Gault Millau Deutschland, war zuletzt dadurch aufgefallen, dass er mit Kommentaren, die erstaunliche Deckungsgleichheit zu einigen Stern-Artikeln der letzten Jahre aufwiesen, Jagd auf einige Avantgardeköche machte. Im aktuellen Gault Millau Guide 2010 strafte er einige Köche ab, die Texturgeber einsetzen. Aber er wagte sich längst nicht an alle Spitzenköche heran. Denn dann hätte er dutzende von ihnen abstrafen müssen. Darunter einige von ganz oben. Entweder, seine Tester merken oft gar nicht, wer, wann und wo Texturgeber einsetzt, oder Kohnke will es gar nicht ganz genau wissen, weil es ihm in Wahrheit nur um PR für seinen Guide geht.
Im Stern wird er mit den Worten zitiert: „Geschmacklich hat Adrià der Welt nun wirklich gar nichts gegeben“. Das zeigt einmal mehr, warum viele Spitzenköche für die Tiraden des einst so gefürchteten Kohnke längst nur noch ein müdes Lächeln übrig haben. Ich will jetzt gar nicht die philosophische Grundsatzfrage zum streitbaren Geschmack bemühen, über die von Immanuel Kant, Lord Kames und David Hume wahrlich genug geschrieben wurde, sondern einfach nur darauf hinweisen, dass Adrià ohne jeden Zweifel ein Großmeister, oder besser der Großmeister textureller Entwicklung war und ist, was vermutlich nicht mal Kohnke bestreiten dürfte. Aber vielleicht weiß Kohnke nicht, dass Textur einen erheblichen Einfluss auf die Freisetzung und Wahrnehmung von Aromen hat.
Die Kritik an teuren neuartigen Geräten empfinde ich letztendlich als die größte Absurdität der Story im Stern. Mal abgesehen davon, dass neue technische Gerätschaften noch nie ein Feind guten Essens waren, ist es mir doch tausendmal lieber, ein Gastronom investiert in Küchenausstattung und Qualitätsprodukte als in aberwitzig teures Ambiente.
Nahezu die gesamte Weltelite der Köche nutzt inzwischen moderne Technik und bedient sich aus dem Portfolio diverser Texturgeber. Für die ambitionierten Jungen, die nachrücken, ist es ohnehin längst selbstverständlich. Weil sie klug und offen sind, weil sie nicht verbohrt sind, weil sie besser und kreativer kochen wollen.
Die Story im Stern wirkt auf mich wie ein letztes Rückzugsgefecht. Man hat sich dort in den letzten Jahren so auf die molekular inspirierte Küche eingeschossen, dass man anscheinend nur schwer aus der Nummer herauskommt. Im Ton weitaus weniger scharf als in der Vergangenheit, klingt sie fast wie ein Abschluss. Denn der Redaktion kann einfach nicht entgangen sein, welchen Schub das wissenschaftlich basierte und inspirierte Kochen der Haute Cuisine gegeben hat. Die Molekularküche und die von ihr beeinflusste Avantgarde hat die Produktqualität stärker als je zuvor in den Mittelpunkt gerückt. Sie hat dazu beigetragen, von einer an Marktpreisen orientierten Hegemonie der Grundprodukte wegzukommen und Grundprodukten einen prinzipiell gleichen Stellenwert in einem Gericht beizumessen. Eben unabhängig davon, ob Kaviar nun exorbitant mehr kostet als Kartoffeln und Hummer viel teurer ist als Huhn. Köche, die nicht in der Lage sind, mit neuen Techniken und Produkten verantwortungsvoll umzugehen, hat es immer gegeben und wird es immer geben. Dafür aber die Techniken und Produkte verantwortlich zu machen, ist ungefähr so überzeugend wie ein Auftritt von Thomas Schaaf, Coach von Werder Bremen, der sich bei einer Pressekonferenz hinstellen und behaupten würde, der Ball sowie die Sprechfunkgeräte von Schieds- und Linienrichter wären Schuld am schlechten Saisonverlauf seiner Mannschaft. Es wird höchste Zeit, die Debatte um die Kochwissenschaft und die von ihr inspirierten Köche vom Kopf auf die Füße zu stellen.