Michelin-Chefin Juliane Caspar im Kompottsurfer-Interview: „Man überschätzt den Chauvinismus der Franzosen“

Sie ist zur mächtigsten Frau der internationalen Gastronomieszene aufgestiegen und leitet seit einem Jahr den legendären Michelin Guide France. Als erste Frau überhaupt. Und zum ersten Mal ist diese Position nicht mit einem Franzosen besetzt. Nachdem Juliane Caspar (39), die aus dem Ruhrgebiet stammt, in ihrem ersten Paris-Jahr keinerlei Interviews gegeben hatte, stand sie dem Kompottsurfer nun für ein ausführliches Gespräch zur Verfügung.

Frau Caspar, erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Erscheinen des ersten Michelin Guide France unter Ihrer Leitung. Wie lautet eigentlich Ihre offizielle Bezeichnung? Chefinspektorin?

Chefredakteurin. Ich habe allerdings keine journalistische Ausbildung absolviert, was die Bezeichnung vielleicht nahe legen könnte, sondern eine Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht und bin dann über Stationen in der Spitzengastronomie in Deutschland, England,Italien und Südafrika 2002 als Inspektorin zum Michelin Deutschland gekommen. Kurze Zeit später beerbte ich dann unseren ehemaligen Chefredakteur, der in den Ruhestand ging. Anfang 2009 übernahm ich die Leitung des Guide Frankreich.
Sie stammen aus einer kulinarisch lange Zeit nicht gerade verwöhnten Region, dem Ruhrgebiet und sind in Bochum geboren. Können sie denn auch folgende Liedzeile von Herbert Grönemeyer vervollständigen? … machst mit dem den Doppelpass jeden Gegner nass ….
(lacht) Na klar: du und dein VfL! So weit bin ich dann doch noch verbunden, dass ich sogar weiß, dass die Bochumer am letzten Wochenende verloren haben.
Stimmt. Nach acht Spielen ohne Niederlage in Folge. Kommen Sie gelegentlich noch in die alte Heimat?
Ja, ab und zu besuche ich in Bochum meine Verwandtschaft.
Dann haben Sie bestimmt auch einen Restauranttipp für uns, wohin Sie auch mit den Verwandten vor Ort essen gehen, oder?
Nein, keine Chance. Ich lasse mich dann ausschließlich privat bekochen.
Sie sind die erste Frau auf dem Chefredakteurssessel des Guide Michelin France, der jetzt zum ersten Mal nicht von einem Franzosen besetzt ist. Gab es auch kritische Stimmen in Frankreich nach ihrer Ernennung? Nach dem Motto: Was macht ausgerechnet eine Frau aus dem gastronomisch rückständigen Deutschland da oben?
Viel weniger als man es sich in Deutschland möglicherweise vorstellt. Intern ohnehin nicht, da mich die Mitarbeiter in Paris schon lange aus meiner Zeit beim Guide Deutschland kannten.
Und außerhalb?
In den Medien ist die Nachricht durchaus positiv aufgenommen worden. Man überschätzt in Deutschland, glaube ich, den Chauvinismus der Franzosen.

Es gibt in Deutschland immer noch Gastronomen die behaupten, ohne teure Tischeindeckung und Riedelgläser kann man so gut kochen, wie man will – einen Stern gäbe es dann nicht. Was muss denn ein Restaurant wirklich leisten, um einen Stern zu bekommen?
Der Stern ist eine Auszeichnung ausschließlich für die Küche. Die bewerten wir nach den Kriterien: Qualität der Produkte, fachgerechte Zubereitung und Geschmack, die Persönlichkeit der Küche, sowie Preis-Leistungsverhältnis und die Beständigkeit der Leistung. Ambiente, Service und Komfort spielen für den Stern keine Rolle. Das drücken die Bestecke aus, die im Guide Michelin vor jedem Haus abgebildet sind. Und so kommt es auch, dass wir in Paris sowohl ein Restaurant wie das L’Astrance mit drei Sternen haben, obwohl es klein ist und weitaus weniger Komfort zu bieten hat als das Le Meurice mit ebenfalls drei Sternen. An den fünf roten Bestecken für das Le Meurice erkennen Sie aber, dass es sich um ein Luxusetablissement handelt. Dass es in der Realität so aussieht, dass die meisten Restaurants mit sehr guter Küche auch einen entsprechenden Komfort, eine besondere Weinkarte und einen erstklassigen Service bieten, ist eine Sache, die wohl mit Angebot und Nachfrage zu tun hat. Gäste, die auf höchstem Niveau essen wollen, wünschen in der Regel auch einen entsprechenden Komfort.

Welche Rolle spielt der Küchenstil? Bei der Konkurrenz, dem Gault Millau, sieht es zumindest in Deutschland teilweise so aus, als würden moderne Köche, die der Molekularküche nahestehen, demonstrativ abgestraft. Noch unter ihrer Leitung beim Michelin Deutschland stieg dagegen ein Avantgardist wie Juan Amador aus Langen mit drei Sternen in den Koch-Olymp auf.
Ausschlaggebend ist für uns die Qualität der Küche und zwar unabhängig vom Küchenstil. Ob Traditionalist oder Avantgardist spielt für uns keine Rolle. Deshalb bekommt bei uns eben auch ein Koch wie Heston Blumenthal drei Sterne. Weil er eben auf höchstem Niveau kocht.
Heston Blumenthal kocht bekanntlich in England. Wie stellt der Guide Michelin sicher, dass Sterne in Frankreich die gleiche Küchenleistung widerspiegeln wie in England, Deutschland oder Japan? Es gibt nicht wenige kulinarisch interessierte, reiselustige Menschen in Deutschland, die behaupten, dass die Messlatte für einen Stern in Frankreich deutlich niedriger läge als in Deutschland.
Wir profitieren davon, dass wir ein weltweit aufgestelltes Unternehmen mit eigenen Teams und Inspektoren sind, die auch über die Ländergrenzen hinaus testen. So testen deutsche Inspektoren schon mal zwei Wochen in Tokio und japanische Kollegen besuchen einen Monat lang französische Restaurants. Darüber hinaus haben wir noch einen Europadirektor, der über die Ländergrenzen hinweg die europäischen Restaurants miteinander vergleicht. Das haben wir den vielen Konkurrenten, die nur national unterwegs sind, voraus. Es ist ja auch ein Bedürfnis des Lesers, dass sich die Auszeichnungen auch international auf dem gleichen Niveau bewegen.

Frau Caspar, können Sie etwas mit den Zahlen 661 und 260 anfangen?
661 ist die Anzahl der Sterne in Frankreich. Und 260 die in Deutschland, richtig?
Richtig. Und Sie ahnen jetzt sicher schon die nächste Frage. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Frankreich im Vergleich so weit vorne liegt? Zumal in Deutschland knapp 20 Millionen Menschen mehr leben als in Frankreich.
Das Verhältnis der Sterne spiegelt in etwa auch das Verhältnis der Gesamtmenge an Restaurants in beiden Ländern wieder. Es gibt in Frankreich einfach mehr Restaurants als in Deutschland. Und die Franzosen gehen auch öfter essen als die Deutschen. Da reicht schon ein Blick in den Teil meines Freundeskreises, der beruflich nichts mit Gastronomie zu tun hat. Die Freunde in Frankreich gehen einfach viel öfter Essen als die Freunde in Deutschland.
Bib Gourmands sind die im Guide mit dem Gesicht des Michelinmännchens markierten Restaurants, die für gute und preisgünstigste Adressen ohne Stern stehen. Hier ist der zahlenmäßige Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich lange nicht so deutlich wie bei den Sternen. Man sollte doch meinen, gerade da wären uns unsere Nachbarn durch ihre außergewöhnliche kulinarische Tradition besonders weit voraus. Oder hat Deutschland auf der Ebene unterhalb der Sterne einfach nur aufgeholt.
Ich habe nichts dagegen, wenn Sie das so schreiben. Aber wenn wir uns das in den Ländern mal genauer anschauen, muss man auf die nationalen Eigenheiten eingehen. Vor allem auf die Preise. So liegt in Deutschland die Preisgrenze für den Bib Gourmand bei 35 Euro für ein dreigängiges Menü. In Frankreich dagegen bei nur 29 Euro, mit Ausnahme von Paris, da gelten auch die 35 Euro.
Nanu, sind die Franzosen geiziger?
Nein, aber für die Franzosen, die nun mal deutlich öfter essen gehen als die Deutschen, sind 30 Euro für 3 Gänge einfach eine Art Schmerzgrenze. Aus diesem Grund fallen einige Restaurants in Frankreich aus dem Raster. Wobei ich sagen muss, dass wir in Frankreich auf über 105 neu vergebene Bib Gourmands verweisen können. Von insgesamt jetzt 555. Das allein sollte Anreiz genug sein, den neuen Guide 2010 auch zu kaufen.
Warum hat die Küche in Deutschland bei unseren Nachbarn im Westen immer noch so einen schlechten Ruf? Hier ist doch in den letzten zwei Jahrzehnten viel passiert.
Das hat wohl viel mit Unwissenheit zu tun. Andersherum ist es aber auch nicht viel besser, was oft in Deutschland über die französischen Restaurants gesagt wird. Zum Beispiel, dass sie überteuert oder nicht so gut seien, wie in Gastronomieführen bewertet. Oft beruhen solche Behauptungen gar nicht auf eigenen Erfahrungen. Da wird nur etwas nachgeplappert, was man irgendwo aufgeschnappt hat.

Wer öfter mal in Frankreich unterwegs war und in Sternerestaurants gegessen hat, wird wahrscheinlich festgestellt haben, dass es da bedeutend lockerer zugeht als bei uns. Entkrampfter. Sie kennen ja nun beide Länder gut. Ist das eine Mentalitätsfrage, oder kommen wir Deutschen da auch noch hin?
Schwierige Frage. Ich will hoffen, dass wir Deutschen da auch noch hinkommen. Ein Gast fühlt sich natürlich in einem guten Restaurant wohler, wenn er nicht das erste Mal an einem solchen Ort ist. In Frankreich gehen oft auch die Kinder mit in die guten Restaurants. Sie gewöhnen sich also früh an das besondere Ambiente und das ganze Drumherum und fühlen sich an einem solchen Ort dann schnell auch nicht mehr fremd. Das senkt natürlich auch im Erwachsenenalter die Hemmschwelle, ein gutes Restaurant zu besuchen, weil es nichts Unbekanntes ist und man sich dort schnell wohlfühlen kann. Wer dagegen, wie bei uns, oft nur mit den Vorurteilen konfrontiert ist, es ginge dort steif und verkrampft zu, noch dazu ohne eigene Erfahrungen, der wird erst einmal Mühe haben, sich in einem Sternerestaurant wohlzufühlen.
Man könnte dort zum Beispiel das falsche Besteck benutzen.
Das sind doch völlige Nebensächlichkeiten. Und ich kann das aus meiner Zeit im Service einiger Spitzenrestaurants sagen: Es ist auch dem Personal völlig egal, ob der Gast nun das Vorspeisenmesser zuerst benutzt oder nicht. Aber in Deutschland wird inzwischen auch einiges getan. Es gibt immer mehr Küchenchefs, die zum Beispiel Kinderkochkurse anbieten, um Hemmschwellen abzubauen und an die gehoben Gastronomie heranzuführen. Ich kann mir vorstellen, dass solche Maßnahmen auf Dauer auch Früchte tragen.
Sie haben Ihre Vita schon kurz angesprochen. Als Profi aus dem Gastronomiefach haben Sie bei einem Restauranttest natürlich einen anderen Blickwinkel auf das Geschehen als der Laie, weil Sie die Abläufe kennen. Sind Gastronomieprofis wirklich die besseren Tester? Oder sind es nicht vielmehr die routinierten Gäste, die möglicherweise den Vorteil haben, einzig und allein das Geschehen auf dem Teller zu bewerten. Unabhängig davon, ob sie sich einen Reim auf alle Zusammenhänge machen können oder nicht. Ihr größter Konkurrent, der Gault Millau, setzt auf routinierte Gäste als Tester, die vor ihrer Berufung schon privat mindestens den Gegenwert eines Mittelklasseautos in der gehobenen Gastronomie verfuttert haben sollten.
Wir setzen auf fest angestellte Mitarbeiter, von denen wir wissen, dass sie streng nach unseren Kriterien arbeiten. Und dass sie das Ganze in kompletter Unabhängigkeit und anonym tun. Ein Höchstmaß an Objektivität versuchen wir dadurch zu gewährleisten, dass wir einen Stern niemals nur auf der Basis einer Inspektorenmeinung vergeben oder entziehen. Dafür sind immer die Urteile mehrerer Inspektoren nötig. Wir legen bei der Einstellung Wert darauf, dass unsere Mitarbeiter einen gastronomischen Hintergrund und das Geschehen auch einmal von der anderen Seite kennengelernt haben. Das ist aber nicht das Wichtigste. Objektiv nach den Kriterien des Michelin zu urteilen, ist für uns das oberste Gebot.
Wie hat der Michelin denn das Pascal-Rémy-Desaster verdaut, der 2004 mit seinem Buch Ein Inspektor packt aus den guten Ruf des Michelin ein wenig anbrennen ließ. Es gäbe weniger Inspektoren als offiziell behauptet, es würde zuwenig getestet, zu wenig ins Ausland geschaut und manche Köche seien unantastbar. Und vor versuchter Einflussnahme ist ein Gastronomieführer sicher auch nicht grundsätzlich geschützt.
Die Rémy-Sache ist heute in Frankreich eigentlich kein Thema mehr. Wir haben ja offen dargelegt, dass ein Stern niemals nur aufgrund einer einzelnen Inspektorenmeinung vergeben oder entzogen wird. Und unsere Inspektoren sind immer anonym unterwegs, reservieren unter anderem Namen und zahlen natürlich auch die Rechnung selbst. Zudem wissen auch die Gastronomen, dass es gar keinen Sinn machen würde, einen einzelnen zu bestechen, weil immer noch ein zweiter oder dritter nachkommt. Von daher sind wir solchen Versuchen auch gar nicht erst ausgesetzt.
Es gibt Spitzenköche in Deutschland, die erzählen, sie wären in Hab-Acht-Stellung, wenn ein Auto aus Karlsruhe vor dem Restaurant parkt, wo die deutsche Niederlassung der Michelinwerke beheimatet ist. Vielleicht erkennen sie nicht jeden Tester, aber sie ahnen etwas und könnten so noch gewissenhafter agieren als ohnehin schon.
Zu dem Thema gibt es immer wieder wunderbare Anekdoten.
Bitte, lassen Sie mal hören.
Unser Direktor, der auch repräsentative Aufgaben zu erfüllen hat, und deshalb bei vielen Gastronomen bekannt ist, besuchte vor ein paar Jahren mal privat ein angesehenes Restaurant in Paris und wurde erkannt. Das Personal machte sehr viel Tamtam um seinen Tisch, währen drei Tische weiter einer unserer anonymen Inspektoren völlig unbeachtet blieb und wie alle anderen Gäste nicht nur im Service sondern auch kulinarisch vernachlässigt wurde. Das schlug sich natürlich auch in seinem Bericht nieder. Denn was am Ende zählt ist das Essen des Inspektors, nicht das des Direktors. Letzten Endes muss ein Koch natürlich klar haben, dass er für seine Gäste kocht und nicht für die Tester. Und für alle das gleiche Niveau bieten.

Sie tun auch persönlich alles, um ihre Anonymität zu wahren. Deshalb gibt es von Ihnen auch nur Fotos, die sie von hinten oder verdeckt zeigen. Sind Sie trotzdem schon mal erkannt worden?
Am Ende meiner langen Einsatzzeit in Deutschland schon das ein oder andere Mal.
Und wie geht es in so einem Fall weiter?
Wenn ein Inspektor den Eindruck hat, erkannt worden zu sein, besprechen wir das intern und entscheiden dann, ob es nötig ist, einen weiteren Test vorzunehmen.
Wie bewerten Sie den Umstand, dass in der Weltspitze der Köche immer mehr Autodidakten zu finden sind, die nicht über den klassischen Ausbildungsweg gekommen sind?
Für den Gast ist ja nur entscheidend, dass das Essen gut ist. Da interessiert der klassische Parcours überhaupt nicht. Ein solches Phänomen finden wir ja auch in anderen Bereichen. Auch für den Erfolg ist das nicht ausschlaggebend. Gerade bei einem Dreisternerestaurant kommt es auf die Persönlichkeit eines Kochs an, die sich in seiner Küche widerspiegelt, und die entwickelt man nicht dadurch, dass man woanders etwas abschaut. Um diese Individualität zu entwickeln, kann es sogar von Vorteil sein, nicht den klassischen Parcours durchlaufen zu haben.
Apropos laufen. Bei so viel Essen ist die Gefahr, deutliches Übergewicht anzusammeln sicher gegeben. Was tun Sie, um sich fitzuhalten? Laufen?
Ja, tatsächlich gehe ich regelmäßig joggen. Das ist auch ganz praktisch, weil ich meine Laufschuhe problemlos überall mit hinnehmen kann.
Frau Caspar, ich danke Ihnen für das ausführliche Gespräch.

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