Gesundheitswahn? Moralismus? Religion? Der neue stern-Titel und die Frage: Wird Ernährung zum Glaubensbekenntnis?

Der kompottsurfer hat in den letzten Jahren schon über viele Kanäle seine kritische Haltung gegenüber einer Entwicklung deutlich gemacht, die Ernährung zur Glaubensfrage verklärt. Jeden zweiten Tag, und das ist keine Übertreibung, landet im Postfach des kompottsurfers eine Mail, die entweder ein neues Buch oder eine neue Gastronomie ankündigt, die irgendwie mit reduziertem Ernährungsverhalten zu tun hat.
Schon eine Weile sind Ratgeber und Lokalitäten zum Thema Veganes Kochen in Mode. Dazu Paläo-Diät, eine vorindustrielle Ernährungsweise, die uns mit dem Steinzeitknüppel eins überbrät. Man möchte reimen, so konstruiert kommt einem das Ganze vor: Der Tag, ab dem ich mit Low Carb nicht starb. Gleiche chose ohne Lactose. Und noch vergessen: glutenfrei essen. Amazon listet 1.096 Treffer bei Büchern zum Thema „Low Carb“, 3.160 zum Thema „Vegan“. Bei „Paläo“ sind’s 155, da geht noch was. Ebenso bei glutenfrei (316).
Bei allen diesen Ernährungsratgebern geht es um Verzicht, weil alles immer irgendwo ohne ist. Ohne Fleisch, ohne Fisch, ohne Eier, ohne Milch, ohne Kohlenhydrate, ohne Lactose, ohne Weizen, ohne Gluten, ohne Fett, ohne Zucker, ohne Nüsse. Medial werden Ängste vor Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten geschürt, die mit dem tatsächlichen Ausmaß der potentiellen Gefährdung herzlich wenig zu tun haben. Bei so viel ohne möchte man im Sinne der Kondomwerbung lauthals ausrufen: Mach’s mit!
Nun hat der stern das Thema aufs Titelblatt gehoben und dazu im Heft eine höchst unterhaltsame Story fabriziert. ESSEN – DIE NEUE RELIGION lautet die Headline, und die beste unter vielen guten Aussagen im Text lautet: „Woran erkennst du einen Veganer? Er wird es dir sagen.“ Genau da liegt der Hase im Pfeffer oder, wenn man so will, das vegane Mett auf dem Brötchen: der Missionierungseifer – gepaart mit Moralpredigten. In seinen extremsten Auswüchsen könnte man auch von Veganismus sprechen. Holger Stromberg, Küchenchef der Deutschen Fußballnationalmannschaft und durchaus auch vegetarischen und veganen Zubereitungen zugewandt, sieht sich auf seinem Facebookprofil immer wieder heftigsten persönlichen Anfeindungen ausgesetzt, weil er keinen Totalverzicht auf tierische Lebensmittel erklärt sondern einen bewussten und zurückhaltenden Umgang mit Fisch und Fleisch fordert, einschließlich einer Abkehr von der Massentierhaltung. Aber das ist den Veganisten nicht genug.
Dabei ist übersteigertes Sendungsbewusstsein nicht mal der kurioseste Aspekt dieser Ernährungsapostelitis. Es ist der Hipnessfaktor. Man lässt überall raushängen, dass man was Besonderes isst. Holger Stromberg wird im stern dazu wie folgt zitiert: „60-70 Prozent tun es, weil sie gerade ein Projekt brauchen.“ Der kompottsurfer ist der Ansicht, dass die Verzichtsfanatiker, egal welcher Ausprägung, nicht nur denken, sie seien besser, klüger, rücksichtsvoller als der Rest der Menschheit, nein, sie reden auch ständig drüber und fluten ihr Umfeld mit etwas, was ein alter Freund „Distinktionsgehabe“ nennen würde. Schnoddrig übersetzt könnte man sagen: Man hält sich für was Besseres.
Mit Genuss hat das alles gar nichts zu tun. Aber womit dann? Warum dieser Trend? Weil die Kirchen mit ihren Moralvorstellungen – nicht zuletzt dank Missbrauchsskandal und Verschwendung a la Tebartz van Elst – in Europa gescheitert sind? Weil es eine Ersatzreligion braucht für den Fall, dass Fußball dafür nicht in Frage kommt? Weil mit einem dicken Auto anzugeben uncool und auch viel zu teuer geworden ist? Essverhalten zu einer Botschaft zu machen, passt jedenfalls zum phänomenalen Erfolg der sozialen Medien, weil jeder eine Plattform zur Verfügung hat, seinen Missionierungseifer auszuleben. Und weil das Ganze auch als Geschäftsmodell taugt, steigen Verlage, Gastronomie und Lebensmittelhandel darauf ein.
Schlimm ist das alles nicht. Es gibt sogar positive Aspekte, weil dieser Trend den Einen oder Anderen unter uns dazu bringt, über Ernährung überhaupt erstmal nachzudenken. Nur den Genuss am Essen sollten wir uns darüber nicht verderben lassen. Und wie geht es weiter? Der kompottsurfer ist sicher, dass irgendwann jede Ernährungssau durchs Dorf getrieben wurde und eine Normalisierung eintritt. Und wenn hier nur der Wunsch Vater des Gedankens sein sollte, dann ist das auch nicht wirklich schlimm.

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