Wie groß die Erwartungen an den Auftritt des Avantgardekochs aus dem legendären Restaurant Alinea in Chicago sind, ist an der Atmosphäre im Konzertsaal des Kölner Palladiums abzulesen. Schon eine halbe Stunde vor Beginn seines Vortrags sind die Stuhlreihen bis auf den letzten Platz besetzt, und immer mehr Besucher der kulinarischen Fachmesse Chefsache müssen sich einen Stehplatz am Rand des Saals suchen.
Und Achatz liefert. Schnell wird klar, dass der Mann die Haut Cuisine als Gesamtkunstwerk sieht und bearbeitet. Die Menschen und ihre Emotionen sind wichtige Bestandteile seiner Überleg-ungen, und wie zum Beweis zaubert er aus einer kaugummi-ähnlichen Masse Heliumballons hervor. Man beißt hinein, atmet ein und spricht in der piepsigen Tonlage der ZDF-Mainzelmännchen „Guten Appetit“ oder was einem sonst so einfällt. Die Masse ist perfekt abgestimmt, Geschmacksrichtung Saurer Apfel. Sauer macht lustig, der Sound der Tonlage auch. Und Luftballons, na klar, sind schon seit Kindertagen ein Symbol für Heiterkeit und Freiheit. Eine ideale Eröffnung für einen entspannten und genussreichen Abend im Restaurant.
Wer gelegentlich in ambitionierten Restaurants zu Gast ist, wird wahrscheinlich schon mal mit den Vorträgen des Servicepersonals über den Inhalt des jeweils Gerichts gehadert haben, die einem unter Umständen so langatmig vorkommen können wie die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Ganz davon abgesehen, dass man am Ende nicht mehr weiß, welche Zutaten am Anfang aufgezählt wurden. Achatz macht am Beispiel von Fotokarten deutlich, was er servieren lässt. Ohne das der Service reden muss. Erinnert ein wenig an den Speisekartenstil billiger Touristenbuden oder Eisdielen, ist im Detail dann aber doch anders, weil es in seinem Fall darum geht, von ihm modernisierte Traditionsgerichte zu visualisieren in dem das Foto, in Bierdeckelformat ausgedruckt, die traditionelle Machart des Gerichts zeigt. Funktioniert also nicht immer diese Idee. Aber macht deutlich, wo es überall Veränderungspotential gibt.
Immer wieder offenbart Achatz seine Art zukunftsweisende Gastronomie zu denken. Er erläutert wie Trends entstehen, verlaufen und vergehen. Wer detaillierte Einlassungen zu diversen neuen Kochtechniken erwartet hatte, sieht sich enttäuscht. Und genau daran wird deutlich, wie visionär Achatz denkt und handelt. Er will die Zuschauer im Saal mitnehmen, sie sind potentielle Multiplikatoren seiner Gedanken.
Es ist überwiegend leicht, seinem nur wenig akzentuierten Vortrag in englischer Sprache zu folgen. Aber als der Begriff Pop Up fällt, muss man doch genauer hinhören. Was hat ein Pop-Up-Menü in der Gastronomie zu suchen? Wenn der kompottsurfer den Gedankengang von Achatz richtig versteht, will er mit seiner Küche und seiner Brigade immer wieder in anderen Städten, anderen Ländern, anderen Kulturen aufpoppen. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie darum, seine Küche als Exportartikel zu verkaufen, sondern neuen geistigen Input für sich und sein Personal zu generieren.
Der mit drei Michelinsternen dekorierte Achatz zeigt dem Publikum auch Blaupausen der Umbaupläne für sein Restaurant Alinea. Dabei macht er klar, wie sehr die sinnliche Wahrnehmung von Raumsituationen abhängt, beziehungsweise beeinflusst wird. Sehen, riechen, hören, all’ das will er mitgedacht wissen, wenn es um sein Gastronomiekonzept geht.
Höhepunkt seines so eindrücklichen wie kurzweiligen Vortrags ist die Präsentation eines Desserts. Sehr frei nach dem Motto: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Achatz sprengt einfach mal die räumliche Enge, die ein Teller für das Anrichten komplex komponierter Desserts bietet und breitet Obst, Mousses, Eis und Saucen direkt auf dem Tisch aus. Es ist mehr als nur ein optischer Gag und berührt mehrere Ebenen. Mehr Möglichkeiten für die Komposition, mehr Lockerheit und Lust auf den Genuss beim Gast. Am liebsten würde man sofort mit den Händen zugreifen.
Achatz macht Kunst, keine Frage. Mit Verpflegungsgastronomie hat das alles nur noch sehr wenig zu tun. Er wird einige Köche inspirieren, andere zum bloßen Kopieren seiner Ideen verführen. So gut und wichtig Köche wie Achatz mit ihren Anregungen sind – die traditionelle Küche, die gute regionale Gastronomie kann und soll seine Art zu kochen nicht ersetzen. Das sieht Achatz selbst auch so.