Zugegeben, es braucht Fantasie, sich das bierbauchige Ruhrgebiet als Weinbauregion vorzustellen. Dabei ist der Anfang längst gemacht. An einem Südhang in der Nähe des Phoenixsees, bewässert aus der einstigen Vorzeigekloake der Republik, der Emscher, wird dieser Tage wieder Wein geerntet. Die Emschergenossenschaft begann im Mai 2012 damit, auf drei Flächen von jeweils 50 Quadratmetern 23 Rebzeilen mit je 4 Pflanzen zu pflocken (der kompottsurfer berichtete). Insgesamt 92 Rebstöcke, an der Treppenanlage zur Bellevue-Aussichtsplattform am Nordufer des Phoenix Sees gelegen. Warum ausgerechnet 92? Es könnte mit der angebauten Rebsorte zu tun haben, die ausgerechnet „Phönix“heißt und 1992 Sortenschutz erhielt. Eine Kreuzung aus Bacchus und Villard Blanc, die einen Hieb Winterfrost vertragen kann und außergewöhnlich resistent ist gegen Pilzkrankheiten wie Mehltau. Die international renommierte Forschungsanstalt für Weinbau in Geisenheim unterstützt die auf Wasserwirtschaft spezialisierte Emschergenossenschaft bei dem nur auf den ersten Blick kurios wirkenden Versuchsprojekt.
Denn schon seit vielen Jahren ist klar, dass der Klimawandel auch die Welt des Weinbaus grundlegend verändern wird. Ein Prozess, der bereits im vollen Gange ist. Das belegen Aufzeichnungen zahlreicher Winzer, deren Betriebe bereits seit über 200 Jahren Temperaturdaten sowie die Zeitpunkte von Austrieb, Weinblüte, Reifeprozess der Trauben sowie Lese aufzeichnen. Allein in den letzten 20 Jahren hat sich vielerorts der Lesebeginn durchschnittlich um eine Woche nach vorne verschoben. In Zukunft wird es auch in nördlichen Regionen möglich sein, in größerem Maße Wein anzubauen.
Nun sind Klimaveränderungen nicht immer vom Menschen gemacht. Vom 9. bis zum 15. Jahrhundert, in der sogenannten Mittelalterlichen Warmzeit, war es tief im Westen schon einmal wärmer als üblich. Erdgeschichtlich betrachtet also erst ein Wimpernschlag her. In dieser Zeit wurde auch im Ruhrgebiet Wein angebaut. Ausgerechnet am Remberg in Dortmund-Hörde, also unweit des Phoenixsees, hat ein gräflicher Weingarten gestanden, wie alte Urkunden belegen. Als Folge der Klimaerwärmung werden auf den Weinbau in Deutschland aber nicht nur geographische Veränderungen zukommen. Auch der Rebsortenspiegel wird sich über die nächsten Jahrzehnte verändern. Experten wie der Direktor am Max-Plank-Institut für Meteorologie in Hamburg, Hartmut Graßl, empfehlen den Winzern deshalb experimentierfreudig zu sein und eine behutsame Neuausrichtung zu wagen, die Raum lässt für den Anbau ortsunüblicher Rebsorten. Auch der Riesling war nicht immer die unangefochtene Hauptrebsorte in Deutschland. Noch 1972 lag der Grüne Silvaner bei den Anbauflächen nahezu gleichauf, wogegen der Müller-Thurgau sogar 20 Prozent mehr Anbaufläche als der Riesling beanspruchte.
Aber zurück zur Rebsorte Phönix, dessen prägnantestes Geschmacksmerkmal das Muskataroma ist sowie eine frische, kräftige Säure. Gerade wird in Dortmund der 2017er Jahrgang geerntet. Das Mostgewicht taxiert der zuständige Projektleiter Helmut Herter auf 70° Oechsle, womit sich ein natürlicher Alkoholgehalt von etwa 9 Vol% erzielen lässt. Nach der Lese werden die Trauben ins Pfälzische Duttweiler transportiert und dort im Weingut Mohr-Gutting vinifiziert.
Dortmund ist aber nicht der einzige Ort im Ruhrgebiet, wo mit der neuen Rebsorte experimentiert wird. Auf Schloss Hugenpoet in Essen-Kettwig stehen die Rebstöcke sogar schon etwas länger – zu Ausbildungszwecken für den gastronomischen Nachwuchs. Wird wohl Zeit, im Paragraphen 3 des Deutschen Weingesetzes ein neues Anbaugebiet verankern zu lassen: Ruhr.