Wenn der Guide Michelin am 3. März 2020 die neu und wieder besternten Häuser der Republik verkündet, wird das Hattinger Restaurant Diergardts Kühler Grund wahrscheinlich nicht dabei sein. Noch nicht. Denn wer sich bei Philipp Diergardt zu Tisch setzt, wird schnell feststellen, dass hier mit Herz, Verstand und Ambition gekocht wird. Mögen die Inspektoren des Guide vielleicht befremdlich finden, dass der 115 Jahre alte Familienbetrieb mit seinem Angebot auch den Gästen entgegen kommt, die mit der Haute Cuisine fremdeln – die Leistungen der Küche schmälert das nicht. So gibt es hier jeden Sonntagabend Schnitzelprogramm, und auch gastronomische Traditionen wie Spargelwochen und Gänse-Essen werden gepflegt. Ein Haus dieser üppigen Größenordnung auch betriebswirtschaftlich verantwortungsvoll zu bespielen, ist eben eine besondere Herausforderung.
Wie auch immer – anspruchsvolle Esser werden ihre Freude haben, wenn sie Philipp Diergardts regional grundierte Küche genießen dürfen. Das Spannungsfeld seiner Gerichte liegt zwischen Gebratenem Schollenfilet Finkenwerder Art und Kalbskotelett mit Steinpilzrahm auf der einen sowie Burrata mit Tomatentee und eingelegtem Radicchio-Treviso-Salat auf der anderen Seite. Wobei es vor allem Diergardts Interpretationen der Klassischen Garniturenküche sind, die Gäste wie mich in Versuchung bringen, die Speisekarte rauf und runter zu futtern. Wo gibt es das heute noch auf diesem Niveau? Wehmütig erinnere ich mich an die Zeit zurück, als Berthold Bühler und Henri Bach in der Kettwiger Résidence diese Art Küche wieder aufleben ließen und an einigen Tagen in der Woche einen Teil ihrer Zwei-Sterne-Gastronomie zum Restaurant Püree umfunktioniert hatten. Nun also bei Diergardts. Mit besagter Scholle Finkenwerder Art, mit Kalbsleber Berliner Art und Königsberger Klopse.
Diergardt junior gestand mir in einem Interview mal freimütig ein, dass er nach Abitur und Zivildienst mit Gastronomie nicht viel zu tun haben wollte. „Ich habe gesehen, wie wenig Freizeit meine Eltern durch die Arbeit hatten, und als Jugendlicher konnte ich mir so ein Leben für mich nicht vorstellen.“ Da er zunächst nicht so recht wusste, ob, und wenn ja, was er studieren sollte, überbrückte er die Bedenkzeit mit einem Praktikum im Weingut Meyer-Näkel. Werner Näkel hatte er bei einer Veranstaltung im elterlichen Betrieb kennengelernt und sich nach diesem Abend zu einem Praktikum beim ihm entschieden. Er blieb ein halbes Jahr und lernte in dieser Zeit Hans Stefan Steinheuer kennen, vom Restaurant Alte Post, das nur wenige Kilometer vom Weingut entfernt lag: „Plötzlich fand ich den Gedanken ganz spannend, in einem Zwei-Sterne-Haus Kochen zu lernen. Aber ich war auch angefixt von den Genüssen, an denen ich an der Ahr in dieser Zeit teilhaben konnte. Die großen Gewächse probieren, sogar mal einen Romanée Conti. Dazu das Handwerkliche im Weingut, das Einmaischen, das Abfüllen – es hat mich einfach gepackt.“ Irgendwann fragte er nach einem Praktikum bei Steinheuer, und nach ein paar mal Probearbeiten klappte es sogar mit einem Ausbildungsplatz. Was ihm bei Steinheuer gefallen hat: „Es hat da nie nur die Haute Cuisine gegeben, sondern neben der Zweisterneküche liefen auch immer wieder die Schweinefiletspitzen für die Skatrunde oder Käse-Champignon-Toasts für die Kegelbahn.“ Kein Wunder also, dass er es selbst mit seiner kulinarischen Ausrichtung im eigenen Haus ähnlich hält.
Philipp Diergardt hatte keinen Masterplan im Kopf, wie er sagt. Seine Entscheidungen „hatten auch immer was Spontanes.“ Nach der Kochausbildung fragte ihn Werner Näkel, ob er nicht noch bei ihm eine Winzerausbildung machen wolle. „Ich muss sagen, mich hat der Gedanke schon amüsiert und fasziniert, der erste Winzer von Hattingen zu werden. Außerdem fand’ ich’s einfach cool, Winzer zu sein, gerade in einer Zeit, wo Weine aus Deutschland ihre große Renaissance erlebten.“ Und so folgte die Winzerausbildung auf die Kochlehre und schließlich noch die Sommelierschule in Koblenz sowie eine Station bei Nils Henkel in Bergisch-Gladbach. Und dann führte ihn, der an der Ahr schon heimisch geworden war, der Weg doch eines Tages wieder zurück zu seinen Wurzeln und in den elterlichen Betrieb, wo er auch von den Erfahrungen des Vaters profitieren konnte und immer noch kann, der das Haus über Jahrzehnte erfolgreich geführt hat und für dessen Unterstützung er dankbar ist. Ähnlich wie im Velberter Haus Stemberg (die Familien kennen und schätzen sich übrigens), verlässt die alte Garde nicht fluchtartig den Schauplatz, sondern sorgt mit ihrer Präsenz für die besondere Atmosphäre, die gut geführte Familienbetriebe ausmacht.
Der Wein – was Wunder – spielt in Diergardts Restaurant auch eine wichtige Rolle. Für Veranstaltungen hat man inzwischen einen wunderschönen Weinkeller eingerichtet und die Weinkarte ist wirklich herausragend bestückt, auch mit reiferen Kreszenzen, was auch Diergardt Senior zu verdanken ist, der schon vor Jahrzehnten in sehr gute und lagerfähige Weine investiert hat. Und barmherzig kalkuliert ist das Ganze auch noch. Wo in der Gastronomie bekommt man eine Flasche 1990er Chateau Gruaud-Larose für 170 Euro? Ein Wein, den Robert M. Parker mit 93 Punkten geadelt hat (obwohl ich mich persönlich nicht an Parker-Punkten orientiere, aber sie sind zweifelsfrei preistreibend). Noch spannender als Bordeaux finde ich allerdings die Auswahl an Wein aus Deutschland auf der Karte. Da bleiben wirklich kaum Wünsche offen.