Es gab Zeiten in Deutschland, da galt Müslifresser als Schimpfwort für langhaarige Ökofreaks, die schlabberige Strickpullover trugen und Rostlauben fuhren, deren Heckklappen mit Aufklebern zugepflastert waren. Die Botschaften: „Atomkraft? Nein Danke!“ und: „Hupen zwecklos, Fahrer wird von Moskau ferngesteuert.“ Im schmückenden Beiwerk, die obligatorische weiße Friedenstaube auf blauem Grund.
Das Leben eines typischen Müslifressers, wie ihn sich viele Mitmenschen damals vorstellten, war so etwas wie ein gesellschaftlicher Gegentwurf zum gartenverzwergten Spießbürger, der wochentags Graubrot mit Leberwurst frühstückte und sich am Samstag Weißmehlbrötchen mit Marmelade gönnte. Ob ihr’s glaubt oder nicht, liebe Spätgeborenen, sonntags gab’s keine Brötchen, nur am Nachmittag durften die Bäcker für den Verkauf von Streuselkuchen und Bienenstich zwei Stunden lang aufsperren. Kein Witz.
So ganz weit weg von der Wirklichkeit war die Vorstellung vom Müslifresser damals nicht, das möchte ich – der Fairness halber – nicht unerwähnt lassen. Wobei Ausnahmen die Regel bestätigten. Ich fuhr seinerzeit Rostlaube mit Aufklebern und trug schlabberige Strickpullover, die ich aber schnell wieder ablegte, weil sie fürchterlich kratzten, wogegen auch kein Perwoll oder sonst was half. Und meine politische Gesinnung war auf Protest gebürstet. So hatte ich zwar das eine oder andere gemein mit dem Rollenmodell eines Müslifressers, aber ich frühstückte für gewöhnlich Vollkornbrot mit Wurst oder Käse, gelegentlich auch Weißmehlbrötchen mit Pumpernickel, belegt wie das Vollkornbrot. Die Vorstellung, zum Frühstück irgendwelche in Milchprodukten verklappte Körner futtern zu müssen, löste bei mir Würgreiz aus. Und hätte man mir damals prophezeit: Junge, es wird eine Zeit kommen, da wirst du Müsli lieben – ich hätte mindestens zehn Kisten Fiege Pils dagegen gewettet.
Vor gut zwei Jahrzehnten besuchte ich einen Freund in Berlin mit dem ich die Begeisterung für mobilare Designklassiker von Charles & Ray Eames, George Nelson, Arne Jacobsen und Co. teile. Wir hatten uns verabredet, um ein paar Stühle und Sessel auszutauschen. Und da die Strecke Bochum-Berlin-Bochum mit dem Auto an einem Tag nicht stressfrei zu machen ist, nahm ich dankend an, als er mit das Gästezimmer in seinem Haus zur Übernachtung anbot. Thomas wohnte damals in einem kleinen Bungalow in der Dahlemer Dreipfuhlssiedlung, die nach dem 2. Weltkrieg für die amerikanischen Besatzungstruppen in Anlehnung an den Bauhausstil errichtet worden war. Dieses Kleinod hatte er geschmackvoll mit Designklassikern ausgestattet, darunter viele Erstauflagen berühmter Möbelstücke. Unvergessen, wie ich am nächsten Morgen in der von Sonnenlicht durchfluteten Küche auf einem dieser raren Eames Armchairs aus der ersten Serie saß, hergestellt aus Fiberglas der amerikanischen Firma Zenith Plastics. Mäße man deren Besonderheit an einem Beispiel aus der Weinwelt, käme die einem Château Petrus 1947 im perfekten Zustand gleich. Acht dieser Prachtstücke standen um den großen Küchentisch herum, jeder Stuhl andersfarbig schimmernd, ach was, geradezu leuchtend durch das transparente Plastik. Ich war wie hypnotisiert. Und dann kam Thomas und fragte: „Wie möchtest Du dein Müsli? Mit Milch oder Joghurt?“. Ich schreibe es noch heute meinem Hypnosezustand zu, dass ich mit größter Selbstverständlichkeit „Joghurt“ zur Antwort gab. „Und welches Obst?“, fragte er weiter und zählte auf, was er vorrätig hatte. Ich weiß nicht mehr, was er mir schließlich ins Müsli schnippelte, aber ich weiß noch genau: Es war superlecker und genau der Tag, ab dem ich meine Frühstücksgewohnheiten radikal änderte. Seither gibt es bei mir jeden Morgen Müsli mit frischen Früchten, außer am Sonntag, der ist für Apfelpfannkuchen reserviert.
Längst ist das Müsli vom Ökofreak-Frühstück zum Lifestyle Food mutiert, was es für mich nicht besser macht. Mir drängt sich heute das Bild von drahtigen, kahlköpfigen Managertypen in Anzug mit Hemd ohne Krawatte auf und von Extremsportlerinnen, die aussehen wie große Schwestern von Lara Croft und ein hochdiszipliniertes Leben zwischen Yoga, Job, Workout und Diät führen, wenn ich mir die typischen Müslifresser vorstelle. Weit und breit kein langhaariger Ökofreak mehr zu sehen. Aber weg von den Schubladen: In Wahrheit hat das Müsli längst in allen gesellschaftlichen Gruppen Akzeptanz gefunden.
So viel wie ein Müsli auch zu einer gesunden Ernährung beitragen kann, mir kommt da der Genussaspekt zu kurz. Ich esse Müsli eben nicht deshalb, weil das meiner Gesundheit zuträglich ist, sondern weil es so scheiße lecker schmeckt. Den Gesundheitsaspekt nehme ich natürlich gerne mit.
Hier noch ein paar Tipps aus zwei Jahrzehnten Müsligenuss. Die wichtigste Regel überhaupt: Niemals, wirklich niemals, das Obst auf einem Brett vorbereiten, das sonst zum Knoblauch oder Zwiebeln schneiden in Gebrauch ist. Sie werden sich vom Aromaschock den ganzen Tag nicht erholen. Als Basis für das Müsli kommt bei mir eine Mischung aus Haferflocken, Trockenfrüchten und Nüssen in die Schüssel, wobei ich darauf achte, dass kein Zucker zugesetzt ist. Die Trockenfrüchte und das Obst enthalten davon schon genug. Einen Extrakick bringen selbst angesetzte Keimlinge aus einer Getreidemischung. Ich mag den Biss und mein Körper freut sich über die Extraportion Vitamine und Mineralstoffe.
Und so sieht mein Lieblingsmüsli zum Frühstück aus: 80 g Müsli-Mischung // 1 EL Keimlinge, //12 g Bitterschokolade (80-85%) // 1 Paranuss (enthält eine Tagesdosis Selen) // 2 EL Granatapfelkerne // 150 g Bio-Speisequark (Magerstufe) // 50 g Bio-Joghurt (3,5%) // frische Früchte nach Saison und Marktlage.
Bitterschokolade und Paranuss grob hacken, Quark und Joghurt erst zusammen verrühren, dann mit den anderen Zutaten zu einem leckeren Klumpatsch vermengen, fertig. So ein Müsli hält mir gut und gerne fünf bis sechs Stunden jeden Anflug von Hungergefühl vom Leib.