Wenn ich in der Schule ein Fach wirklich gehasst habe, dann Musik. Obwohl ich den Genen nach mindestens das Zeug zum Kapellmeister oder 1. Tenor im Kirchenchor hätte haben müssen, übten Musikinstrumente und Chorgesang eine Anziehungskraft auf mich aus, die nur noch von selbiger auf Laubsägen und Holzraspeln im Werkunterricht unterboten wurde, der heute übrigens Designpädagogik heißt. Zumindest sprachlich hat das Fach Werken also einen gewaltigen Sprung gemacht, ungefähr so wie im Fußball aus einer Mannschaft, die mauert, ein kompakt stehendes Team geworden ist. Die Spielweise ist zwar Zuschauerfolter wie eh und je, nur klingt es jetzt netter.
Ob die Inhalte des Werkunterrichts genauso abschreckend geblieben sind wie damals, als wir mit Hohlbeiteln Schalen aus Holzblöcken hämmern und Störche aus klappernden Spanplatten sägen mussten, kann ich nicht beurteilen. Aber ich halte es für möglich, zumal immer mehr bildungsbürgerliche Eltern und eine distinktionsorientierte Mittelschicht ihre Kinder in Waldorfschulen schicken, wo das Handwerkliche einen sehr viel höheren Stellenwert genießt als im staatlichen Schulsystem. Vielleicht ist die Lust des Nachwuchses auf Sägen, Hämmern und Schmirgeln ja in Wahrheit viel größer als ich mir das so vorstelle. Endlich kann man mal die Finger von Instagram, Snapchat und dem ganzen Digitaldreck lassen und gegen ein paar schmutzige Hände im Werkraum eintauschen.
Meine Abneigung gegen den Musikunterricht hatte übrigens nichts mit Musik an sich zu tun. Im Gegenteil. Ich war geradezu verliebt ins Klangliche. Und meine Plattensammlung konnte sich schon in jungen Jahren sehen lassen. Alles Taschengeld ging dafür drauf. Schlimm am Musikunterricht waren für mich die Noten, die wir pauken mussten und deren Punkt- und Strichcodes ich mir mangels Erlernen eines Musikinstruments nicht als Töne vorstellen konnte. Ich hätte viel lieber Kochunterricht gehabt als Werken und Musik, aber der war für die Mädchen reserviert, was ich schon damals ziemlich doof fand.
Neuerdings hat – und das ist der Grund für meine Abschweifung in die Schulzeit – nicht nur die Musik sondern auch das Kochen mit Noten zu tun. Zugestanden, Gastronomiekritiker sprechen schon lange von Kompositionen, wenn sie Gerichte in ihrem geschmacklichen Wohlklang oder ihren Misstönen zu beschreiben suchen, aber das Kochen nach Geschmacksnoten ist recht neu. Der französische Physikochemiker Hervé This hat es unter der Bezeichnung note by note cooking 2009 zusammen mit Starkoch Pierre Gagnaire initiiert; jener This also, der Anfang der 1990er Jahre zusammen mit Prof. Nicholas Kurti die sogenannte Molekulargastronomie aus der Taufe hob.
In beiden Fällen spielt wissenschaftlich basiertes Kochen eine zentrale Rolle. Wobei ich das note by note cooking als besonderes Element innerhalb der Molekularen Gastronomie verstehe. Es hat mit Aromenharmonie zu tun, geht aber noch darüber hinaus. Betont wird hier die Kunst, nicht die Wissenschaft, obwohl sie von ihr inspiriert ist. Es geht darum, neue Geschmacksrichtungen und Texturen und so etwas wie kulinarische Kunstwerke zu schaffen. Dafür werden Aromen und Texturen aller möglichen Zutaten dechiffriert, dekonstruiert und mit dem Wissen um ihre charakteristischen Merkmale neu und frei zusammengesetzt. Komposition statt Kompott. Der Anspruch ist kein geringerer als nach Noten zu kochen, wie in der Musik. Je nachdem mit welchem Instrument eine Note gespielt wird, klingt sie anders. Mit den kulinarischen Noten ist es ähnlich, nur viel komplexer, weil schon die Schlüsselaromen in Zutaten keine solitären Noten sind, sondern Teil eines natürlichen Zusammenwirkens unterschiedlicher chemischer Bausteine, wenn man so will. Die Exaktheit einer nach Noten gespielten Symphonie wird mit den Noten kulinarisch verwertbarer Naturprodukte nie zu erreichen sein. Was auch nicht Sinn der Übung ist. Es geht darum, neue Gerichte zu komponieren und mit aller Freiheit bisherige Grenzen sprengen zu können. Eine Welt, in die sich der spanische Kochrevolutionär Ferran Adrià schon in den 1990er Jahren vorwagte, noch ohne die systematische chemische Analyse der Zutaten. Und doch war er der erste Koch der Welt, der einen konsequent künstlerischen Ansatz verfolgte. In seinem kulinarischen Manifest schreibt er: „Kochen ist eine Sprache, durch die Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Humor, Provokation und Kultur ausgedrückt werden kann.“ Und er verfolgt eine kreative Strategie der Zerstörung: „Die klassische Struktur der Gerichte wird zerstört. Bei Vor- und Nachspeisen gibt es eine Revolution, die viel mit der konzeptionellen Vereinigung zwischen der süßen und salzigen Welt zu tun hat. Bei den Hauptgerichten wird die Hierarchie bestehend aus (zentralem) Grundprodukt, Garnitur und Sauce zerstört.“ Ferran Adria wurde 2007 als erster Koch der Welt als Aussteller zur Documenta eingeladen, obwohl er sich selbst immer als Koch und nicht als Künstler gesehen hat.
Note by note cooking ist eine Bereicherung der Esskultur. Und anders als ich vor gut vier Jahren schrieb, kann ich mir inzwischen sogar vorstellen, dass sie großen Einfluß auf die Zukunft unserer Ernährung haben wird. Zum Beispiel wenn es darum geht, geschmackvoll mit beschränkt vorhandenen Ressourcen umzugehen, wenn wir Fleisch kreieren wollen, das die Tötung von Tieren überflüssig macht. Oder wenn wir haltbare Nahrungsmittel für jahrelange Weltraummissionen entwickeln müssen. Ja, ich weiß, da sind wir wieder weg von der Kunst, aber sei’s drum. Kunst kann Impulsgeber sein, und neue Impulse können wir in unserer heutigen Ernährungswelt reichlich brauchen.
Wie note by note cooking in der Anwendung ausieht, ist in einem Galileo-Beitrag über Andrea Camastra zu sehen, ein Chemiker mit Oxford-Abschluss, der in Warschau als Küchenchef im Sense arbeitet und bereits einen Michelinstern für sein Restaurant holen konnte. Schaut mal rein.