15 Jahre Kompottsurfer: Essen und Trinken zwischen Ethik und Ästhetik.

Walter Serner wird gerne zitiert, wenn es Jahrestage zu feiern gibt. Der von den Nazis 1942 ermordete Schriftsteller war Zeit seines viel zu kurzen Lebens ein wacher Geist gewesen, mit reichlich Humor und Verstand. Er schrieb einmal: „Es gibt wohl kein schmerzlich-schöneres Wort als Jubiläum. Es trägt die Arbeit vieler, vieler Jahre auf den Armen und über seinen Augen hängt es wie Wehmut.“

Passt zum 15-jährigen Jubiläum des Kompottsurfers. Nur darf dazu auch eine dadaistische Pointe Serners nicht fehlen: „Ich würde mich freuen, zu hören, daß diese Seiten der LETZTE Mist sind, der geschrieben wurde. Ich würde mich sehr freuen.“

Nur mit Selbstironie ist dieser Blog über so lange Zeit durchzuhalten gewesen. Manchmal wende ich mich ab mit Grausen, wenn ich meine Überschriften lese, so wie die zu diesem Text. Aber ich will sie trotzdem stehen lassen. Was für ein gequirlter Bullshit und nicht mal suchmaschinenoptimiert. Zu meiner Entschuldigung im vorliegenden Fall ist zu sagen, dass ich gerade Søren Kierkegaards Entweder Oder lese. Über zig Seiten wird da eine ethische Lebensweise einer ästhetischen gegenübergestellt. Der Typ macht mich irre. Aber ich kann das Buch nicht beiseite legen und sagen: Kapier‘ ich sowieso nicht, was der schreibt. Jeden Morgen zum Frühstück gebe ich mir also ein paar Seiten davon und freu‘ mich, wenn da Sachen stehen, die ich nachvollziehen kann. So wie die: „Je köstlicher das Fluidum ist, mit dem ein Mensch sich berauscht, um so schwerer kann er geheilt werden. Der Rausch ist schöner, und die Folgen scheinbar nicht so verderblich. Wer sich im Branntwein berauscht, merkt bald die bösen Folgen, und kann auf Rettung hoffen. Wer aber seinen Durst in Champagner löscht, der wird schwerlich geheilt. “ Ein Beispiel, mit dem Kierkegaard (unter seinem Pseudonym Victor Eremita) die Schwierigkeit beschreibt, sich von der Eitelkeit des Genusses – und weiter gefasst: der ästhetischen Lebensart – lösen zu können, um vielleicht doch noch auf den ethischen Pfad der Tugend zu gelangen.

Deshalb also diese Überschrift zum Jubiläum. Wahrscheinlich hätten Søren Kierkegaard heute – 177 Jahre nach dem Erscheinen von Entweder Oder –  Essen und Trinken allein gereicht, um ethische und ästhetische Lebensweisen gleichermaßen kontrovers auszuleuchten. Nur einfacher wäre das für ihn vermutlich nicht geworden. Im Gegenteil. Essen und Trinken sind heute  so viel mehr als einfach nur Ernährung oder Rauschmittel, zum Beispiel Religionsersatz, Haltung, Gesundheitsthema und Distinktionsmittel (was nicht nur phonetisch irgendwie an Desinfektionsmittel erinnert).

Nun lasse ich die letzten 15 Jahre vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen – als derjenige, der den Blog über all‘ die Zeit gefüttert hat.  Und sehe ein großes Schwanken. Zwischen genussvoller Ästhetik und verantwortungsbewusster Ethik. Zwischen Gänsestopfleber aus dem Périgord, Nierenzapfen vom ganzjährig freilebenden Auerochsen vor meiner Haustür in den Ruhrwiesen und Kunstfleisch als mögliche Alternative zu alledem. In Frankreich ist die Stopfleber Nationales Kulturerbe mit über 2.000-jähriger Tradition und sogar ausgenommen vom Tierschutzgesetz. In Deutschland ist das Stopfen freilaufender Gänse nicht zulässig, dafür wird eine barbarische Massentierhaltung praktiziert, wo schließlich das Fleisch der Rinder, Schweine und Hühner in Fleischfabriken von armselig bezahlten Arbeitern zerlegt wird, die dichtgedrängt in menschenunwürdigen Baracken leben.  Eine Heuchelei sondergleichen. Auch so etwas möchte ich sichtbar machen.

Mein großes Schwanken ist mir durchaus bewusst. Einerseits lebe ich gerne genussvoll, andererseits will ich mich nicht meiner Verantwortung für den Erhalt unserer Ressourcen entziehen, auch um der Zukunft kommender Generationen Willen. Ich lebe nicht mit dem Anspruch, diesen Widerspruch aufzulösen, aber damit, ihn aushalten zu können. Sonst würde ich verrückt werden. Kann man nicht wollen, sowas.

In dieser Tradition des Schwankens sehe ich den nächsten Jahren des Bloggens voller Zuversicht entgegen. Komme, was wolle.

 

 

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